“Sorry, we are out of crocodile”, sagte Vanessa. Es gibt heute kein Krokodil, entschuldigt sich die Bedienung im Restaurant Charcoal Lane, als sie die Speisekarten verteilt. Das Lokal in Melbournes Szeneviertel Fitzroy ist seit mehr als zehn Jahren ein Begriff für seine “native Australian cuisine”. Hier werden Gerichte aufgetischt, deren Zutaten auf die traditionelle Ernährung der Ureinwohner zurückgehen, auch Bush Food oder Bush Tucker genannt.
“Wie aber wäre es mit Känguru- oder Emu-Fleisch vom Holzkohlegrill?”, fragt Vanessa. Nicht nur wegen der Hauptgerichte ist Charcoal Lane ein besonderes Restaurant. Gerade die Beilagen wie unbekannte Gemüsesorten, Früchte wie Quandong oder Kakadu-Pflaumen und Gewürze wie Wattleseed, Strawberry Gum oder Zitronenmyrte versprechen für europäische Gaumen ein vollkommen neues Geschmackserlebnis.
Die traditionellen Nahrungsmittel und deren Zubereitung erleben in Australien seit der Jahrtausendwende eine Renaissance. Nicht nur durch neue Restaurants, die sich auf Aboriginal Food spezialisiert haben. Viele Produkte und Gewürze finden sich längst in den Regalen von Supermärkten. Doch wo kommen diese her?
Bush Walk in der Großstadt
Für die Antwort muss man nicht in den Busch fahren. Die Royal Botanic Gardens in Melbourne, eine grüne Oase mit 12.000 verschiedene Arten inmitten der Metropole, bietet neben dem Aboriginal Heritage Walk seit Kurzem auch geführte Bush-Food-Touren an.
Guide Kalkony kommt eigentlich aus Queensland und kennt nicht nur die essbaren Früchte von Bäumen und Büschen, sondern auch die heilende Wirkung von Pflanzen. Die junge Aborigines-Frau bleibt unter einem schattigen Baum stehen, zupft einige Blätter ab, die sie in ihren Händen zerreibt und die Teilnehmer der Tour probieren lässt. Nach einer Pause wartet sie deren Reaktion ab und lacht: “Jetzt bekommt ihr alle Durchfall!”.
Mit Humor erklärt Kalkony bei ihrem Rundgang die heimische Flora. So auch diese Heilpflanze aus dem Regenwald, genannt Lemon Scented Myrtle. Getrocknet dient die Zitronenmyrte als Gewürz und Tee. “Oder ihr nehmt zehn Blätter und werft sie ins Badewasser, das hilft gut gegen Kopfschmerzen.”
Wenige Schritte weiter schält sie vom dicken Stamm eines Baumes papierdünne Schichten der faserigen Borke ab und reicht diese handtellergroßen Stücke herum. Die Rinde der Weeping Paperbark, die ebenfalls zur Gattung Myrtengewächs gehört, wurde als Baumaterial für wasserdichte Hütten, Einwickelpapier für Lebensmittel oder auch als Klopapier verwendet. Das aus den Blättern gewonnene Öl schützt außerdem vor Insekten.
Zum Abschluss der 90-minütigen Tour durch den schon Mitte des 19. Jahrhunderts angelegten botanischen Garten nehmen alle in einem offenen, runden Pavillon Platz und dürfen probieren. Nicht wie vorher essbare Pflanzen, sondern aufbereitete Häppchen wie in einer Tapas Bar.
Wie wäre es mit einer Kostprobe, zum Beispiel mit Desert Lime Babaganoush, einem Wildauberginenpüree auf kleinen Croutons? Oder mit Sandelholz-Mousse auf Gurkenscheiben mit Finger Lime Caviar und dem salzigen Blatt der Kalkalla? “Das sind vollkommen neue Aromen für mich”, sagt eine der Teilnehmerinnen, “wie eine Geschmacksexplosion in meinem Mund.”
Mehr als nur Bush Food in Charcoal Lane
Die auf den Tellern herumgereichten Häppchen mit Aboriginal Food sind von Auszubildenden aus der Charcoal Lane vorbereitet worden. Denn das Restaurant in der Getrude Street bietet neben ihrem Catering-Service auch Ausbildungsplätze. Das alte Gebäude war lange Sitz des Victorian Aboriginal Health Service, für viele Ureinwohner, die es in die Großstadt verschlug, ein “home away from home”.
Bis heute hat Charcoal Lane den sozialen Charakter bewahrt. Ähnlich wie “Rachs Restaurantschule” oder “Jamie’s Kitchen” lernen hier junge Menschen das Kochen – hier allerdings in der Kombination mit der Kenntnis ihrer Vorfahren. Zur Ausbildung in die Gastronomie kommen junge Aborigines aus ganz Australien zu dieser Adresse, um anschließend in ihre Heimatorte mit einer neuen Perspektive zurückkehren.
Quelle: Stern