Im Nordosten Deutschlands entsteht aus einer Kirchenruine ein besonderes Luftfahrtmuseum: das Ikareum. Das Leuchtturmprojekt der Lilienthal-Stadt soll auch Urlauber von der Ostseeküste in die Provinz Vorpommerns locken.
Nicht die Bomben der Alliierten zerstörten in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs die Nikolaikirche in Anklam, sondern eine Granate, abgeschossen von deutschen Truppen. Als die kleine Hansestadt am 9. April 1945 durch die Rote Armee bereits eingenommen war, feuerte die Wehrmacht vom anderen Ufer der Peene auf das gotische Bauwerk. Der obere Teil des Turms und das Kirchenschiff stürzten ein. Über fünf Jahrzehnte blieb die Nikolaikirche eine Ruine, ohne Dach und Fenster. Wo einst Bänke und Altar standen, wucherten Gras und Büsche.
Nach der Wende konnte ein notdürftiges Dach den Verfall der historischen Bausubstanz aufhalten. Doch für die Anklamer kam ein Wiederaufbau als Gotteshaus neben der älteren und größeren Marienkirche weniger in Frage. Eine Gruppe von Bürgern hatte eine andere Idee, die inzwischen Gestalt angenommen hat: die Nikolaikirche als zukünftiges “Ikareum – The Lilienthal Flight Museum”.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Backsteinbau eng mit dem Namen Lilienthal verbunden. Hier wurde 1848 der Flugpionier Otto Lilienthal getauft und um die Ecke, in der Peenstraße, stand das Geburtshaus des berühmtesten Sohnes der Stadt. Durch seine systematischen wissenschaftlichen Studien, die jahrelang den Flugexperimenten vorausgingen und 1889 in der Veröffentlichung des Buches “Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst” gipfelten, glückten ihm mit selbstkonstruierten Flugapparaten wiederholbare Gleitflüge.
“Der Tag des Jahres 1891, an dem Lilienthal die ersten 15 Meter in der Luft durchmessen hat, fasse ich als den Augenblick, an dem die Menschheit das Fliegen erlernt hat”, schrieb der französische Flugpionier Ferdinand Ferber im Rückblick.
Entscheidend dabei war die Entwicklung eines leicht gewölbten Flügels, der einen Auftrieb erzeugt. Dank der fotografischen Dokumentation seiner bis zu 250 Meter langen Flüge von verschiedenen Absprungstellen in und um Berlin wurde Lilienthal schon vor seinem tödlichen Absturz im Jahre 1896 weltberühmt.
Otto Lilienthal, der Wegbereiter der Luftfahrt
Schon seit langem ehrt Anklam den Flugpionier. Aus einer Abteilung des Heimatmuseums ging das heutige Otto-Lilienthal-Museum in der Nähe des Bahnhofs hervor. Die in einer Villa untergebrachte Ausstellung wurde mehrfach ausgezeichnet und 1996 um einen Hallenbau ergänzt. Hier werden nicht nur die maßstabgetreuen Rekonstruktionen seiner verschiedenen Flugzeugapparate, die aerodynamischen Versuchsreihen und historischen Exponaten gezeigt, sondern auch der Maschinenbauingenieur, der erfolgreiche Fabrikant von Dampfmaschinen, der geniale Erfinder und der Humanist Lilienthal gewürdigt. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gustav engagierte er sich in Sozial- und Wohnprojekten. Sie entwickelten außerdem Spielzeug wie die legendären Anker-Steinbaukästen.
Inzwischen konnte der Lilienthal-Nachlass des Hauses vollständig digitalisiert werden. Besucher vor Ort haben sogar die Möglichkeit, in einem Simulator einen Gleitflug aus der Perspektive Lilienthals praktisch nachzuvollziehen – ohne abzustürzen. Doch das Haus möchte mehr als nur ein Museum sein, das auf eine einzige Person fokussiert ist.
Mit dem Umzug und der neuen Nutzung der Nikolaikirche als Ikareum entsteht ein Besuchermagnet, der auch junge Menschen für Technikgeschichte und Ingenieurskunst begeistern soll. Denn Lilienthals bionischer Lösungsansatz, Fähigkeiten der Natur wie die des Vogelfluges genaustens zu studieren und auf aktuelle Problemstellungen zu übertragen, ist aktueller denn je.
Bionik: Die Natur als Vorbild
Im Mittelschiff der Nikolaikirche hängen bereits Flugobjekte
© Till Bartels
Die in den letzten Jahren wiederaufgebaute Nikolaikirche bietet mit ihren bis zu 35 Meter hohen Säulen und Deckengewölbe einen äußerst voluminösen Raum. “Das Mittelschiff ist unserer Voliere”, sagt Peer Wittig, der stellvertretende Leiter des Otto-Lilienthal-Museums und Vorsitzender des Förderkreises Nikolaikirche beim Rundgang. “Das wird der zukünftige Ort für unsere Flugmodelle.” Längst hat die Kirche wieder ein Dach, neue Verglasung und Fußböden.
Mit Geldern unter anderem der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Landesregierung konnte die Renovierung im Einklang mit der Denkmalpflege finanziert werden. Ende September 2023 bewilligte der Haushaltsausschuss des Bundestages mehr als eine Million Euro für die zukünftige Lilienthal-Präsentation. Somit wird das Ikareum auch zu einem außerschulischen Lernort mit mehr interaktiven Exponaten.
Bereits mit der 2022 abgeschlossenen ersten Ausbaustufe kann die Pilotausstellung Lilienthal Lab in dem eindrucksvollen Kirchenschiff mit seinen grauen, beigen und rötlichen Uraltbacksteinen besichtigt werden. Hinter den großen Buchstaben von A bis T verbergen sich Erklärungen zur Kirchen- und Lilienthal-Geschichte.
Bei einer Veranstaltung war in dem Baudenkmal bereits der Traum vom Fliegen erlebbar, als im Februar 2023 Flugobjekte der Firma Festo durch den Kirchenraum schwebten. Deren Smartbirds, eine bahnbrechende Erfindung von 2011, ahmen durch bionische Technik den Vogelschlag nach. So flatterten bei der experimentellen Flugschau Hightech-Schwalben und künstliche Großschmetterlinge durch die Kirchenkulisse.
Übrigens: Die nach natürlichen Vorbildern entwickelten Robotervögel der Firma für Steuerungs- und Anlagenbau aus dem schwäbischen Esslingen begeistern auch die Besucher des neuen Museum of the Future in Dubai.
In der Anklamer Kirche dagegen wird Historisches ausgestellt, wie den zum Teil rekonstruierten Hüttig-Muskelkraft-Schwingenflieger. Dieses Objekt machte Holger Steinle, der ehemalige Leiter des Luft-und Raumfahrtabteilung des Deutschen Technikmuseums Berlin, erst 2014 auf einem Dachboden in Thüringen ausfindig.
Naturlandschaft und Technikgeschichte: Anklam als Reiseziel
Neben der Kirche entsteht als zweiter Baustein im Gesamtvorhaben ein Neubau, das Regionale Informations- und Tourismuszentrum (RITZ), in dem die Funktionsräume wie Museum-Shop, Archiv, Verwaltung und Sanitärtrakt untergebracht werden. Denn die Hansestadt setzt mit dem Leuchtturmprojekt Ikareum auf zunehmenden Tourismus. Attraktiv ist auch die Turmbesteigung, ein 360-Grand-Aussichtspunkt über die Flusslandschaft Peenetal, einer der am ursprünglichsten gebliebenen Moor- und Vogelschutzgebiete Norddeutschlands. Zusammen mit dem Besucherinformationszentrum des Naturparks in Stolpe etabliert sich Anklam damit als das Ausflugziel für Feriengäste von der benachbarten Ostseeinsel Usedom.
Das historische Baudenkmal ist schon jetzt ein positives Beispiel dafür, wie man einen nicht mehr genutzten Kirchenraum umgestalten kann: in einen Ort, dem der Brückenschlag zwischen Vergangenheit, Pioniergeist und Zukunftstechnologie gelingt. Schon jetzt haben Besucher die Möglichkeit, das Lilienthal Lab zu besichtigen und den Rumpfkirchturm zu besteigen. Die neue Ausstellung soll voraussichtlich im September 2025 eröffnet werden.
Attraktionen in Anklam
Vom Lilienthal-Museum zum Ikareum
Otto Lilienthal hat der Menschheit im übertagenen Sinn Flügel verliehen. Dank seiner wissenschaftlichen Arbeit und späteren Flugversuchen schuf er auch die Vorraussetzung für den Motorflug. Doch dem Forscher, Ingenieur und Humanist ging es nicht nur um die Physik des Fliegens, er berücksichtigte auch die gesellschaftliche Dimension. Technologisch hat sich die Luftfahrt im 20. Jahrhundert enorm weiterentwickelt. Doch von einem Aspekt seiner Vision des Fliegens sind wir heute weiter entfernt als je zuvor.
Vor knapp 130 Jahren schrieb er: “Der freie, unbeschränkte Flug des Menschen würde von tief einschneidender Wirkung auf alle unsere Zustände sein. Die Grenzen der Länder würden ihre Bedeutung verlieren”, so Otto Lilienthal im Januar 1894 in einem Brief an Moritz von Egidy. “Die Landesverteidigung würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als dem blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen.”
Quellen: Ikareum, Lilienthal-Museum, Nikolaikirche Anklam, Anklam Tourismus, Festo
Quelle: Stern