In Tel Aviv wird gerne gefeiert, in Jerusalem dagegen viel gebetet – so lautet eines der typischen Vorurteile über Israel. Doch wer sich in den Stute-Bildband”Tel Aviv“von Jan Windszus vertiefen, wird eines Besseren gelehrt. Sein Abbild der Wirklichkeit fällt differenzierter aus.
Die in mehreren wochenlangen Aufenthalten entstandenen Aufnahmen zeigen Israels größte Stadt mehr als nur in anderem Licht: Ja, hedonistische Bewohner wie sonnenhungrige Touristen tummeln sich an einem Strand und steigen auf Surfbretter. Aber viele Gesichter in dieser Stadt wirken erschöpft, ernst und nachdenklich; Junge wie Alte sind vom Alltag gezeichnet, der in Tel Aviv laut und anstrengend ist. Die Lebenshaltungskosten und die Arbeitslosenrate haben ein im Vergleich zu Mitteleuropa extrem hohes Niveau erreicht.
Wie gut ein Fotograf seine Kunst beherrscht, merkt man daran, wie er Menschen ablichtet. Windszus erfasste Momente mit einem ungewöhnlich sensiblen Einfühlungsvermögen. Er hat in stillen Augenblicken auf den Auslöser gedrückt, ohne die Personen zu stören oder gar zu entlarven. Als Betrachter wusste man das Vertrauen, dass ihm entgegengebracht wurde, das wortlose Einverständnis zur Aufnahme.
Dem Fotografen gelang es sogar in Räumen zu fotografieren, zu denen nur orthodoxe Zugänge haben: in die Ponevezh-Jeschiwa im Viertel Bnei Berak. In diesem Stadtteil, der zu den ärmsten des Landes gehört, studieren Anhänger seit Generationen Thora und Talmud.
Die Abfolge der mehr als 80 abgedruckten Fotografien lebt von einem beständigen Wechsel der Perspektive, ohne unruhig zu wirken: mal Aufsicht oder Detail, mal Porträt oder Totale. Oder senkrecht von oben mit der Drohne gesehen, zum Beispiel auf das Dach eines kreisrunden Hotels mit Swimmingpool.
Die Fotografien kommen ohne Titel und Erklärungen aus. Die Bildlegenden sind zum Glück ans Ende des Buches verbannt. Denn Windszus Tel-Aviv-Aufnahmen sprechen für sich selbst.
Lesen Sie auch:
– Fotos von Nicole Strasser: So schön ist die Normandie – wenn die Touristen weg sind
– Vom Stahlschnitt bis Testfahrt: Wie “Mein Schiff” entsteht – Fotografien von Stefan Pielow
– Manhattan minimal: So witzig haben Sie New York noch nie gesehen
Dieser Artikel enthält sogenannte Affiliate-Links. Mehr Informationen dazu gibt es hier.
Quelle: Stern